Sunday 29 January 2017


Duell
Samstag, 4. Juli 2015
Train E. – London Paddington

8:17am

Grün ist das Land, dampfend unter rosagrauem Gewölk, hinter dem eine vanillegelbe Sonne sich verschlafen die Augen reibt. Vor einer Woche, Samstagabend am Strand von Burton B., hatte das Licht auch diesen Rosastich gehabt. Perfekt zum Photographieren. Leider kam M. nicht von selbst auf diese Idee, obschon die Blumen auf meinem sehr englischen Kleid (für 7.45 Pfund im Shop der British Heart Foundation erworben, während im gegenüberliegenden Bike Shop zwei Männer an meinem kaputten Fahrrad herumschraubten) leuchteten wie kleine Ausrufezeichen. Don’t use exclamation marks!, hatte er zu mir gesagt, in einem Tonfall, der nicht nach einem Punkt am Ende klang. Angeblich würde es neunmalklug wirken. Also gut, ich habe das fragliche Slide meiner Präsentation entsprechend korrigiert – und ihn dann doch mit einem Ausrufezeichen, oder mehreren, an den Strand befördert.
Im Sand hockend, die Knie angewinkelt, beobachtete ich die beiden Männer, die mir ihre Rücken zuwandten, den großen, gekrümmten und den kleinen, geraden, getrennt durch einen Abstand von mehr als siebzig Jahren und doch vereint im Spiel mit den Wellen. Dieses Spiel ging damit aus, daß der kleine Mann bis zu seiner Körpermitte von inzwischen etwa einem halben Meter naß war, worüber die Mama natürlich gar nicht erfreut war, doch gegen die ebenso natürliche männliche Unbekümmertheit, die von dräuenden Krankheiten gar nichts wissen wollte, ja, von solchen offenbar noch nie gehört hatte, war hier wenig auszurichten (einen Tag später setzte das Fieber ein, 40 Grad, 4 Tage lang). Nur mit Geschrei ließ der Kleine sich vom Wasser trennen, und in dieser Situation kam es dann doch zu einigen wenigen Photos, die, gegeben die Umstände, nicht befriedigend ausgefallen sind. Das stellte ich erst später, nämlich vorgestern, fest, da ich mit Blick auf F.s nasse Hosen auf eine sofortige Kontrolle verzichtet hatte. Anders als eine Woche zuvor in Exm., wo M., vollständig unvertraut mit der Kamerafunktion eines Mobiltelephons, in drei Etappen etwa zwanzig Versuche unternahm und unternehmen mußte, bis ich zufrieden war, weil ich ihn eher nicht aus der Verantwortung ließ.

Trotzdem, und zwar nach einer langen Auswahlprozedur, aus der eigentlich Photo IMG_20150620_195342 aus der Exm.-Serie als Sieger hervorgegangen war, das ich der Email sogar bereits angehängt hatte, trotzdem habe ich E. zuguterletzt eines von diesen Burton-B.-Bildern geschickt, weil ich fand, daß es besser zu dem Gedicht paßte, ja, das Gedicht habe ich ihm auch geschickt, vorgestern, während M. im Flur mit S., R.s Freundin, die neuerdings ebenfalls für mich babysittet, über ihre Zukunftspläne sprach (Gap year in Portugal, anschließend Physikstudium), ganz schnell mußte es gehen, wenn es heute überhaupt noch etwas werden sollte, dann ganz schnell jetzt sofort, da blieb keine Zeit mehr zum Hin-und Her-Überlegen, zum Abwägen der Für-und-Widers, für einen gesitteten Dialog von Vernunft und Gefühl. Nein, an diesem Abend reichte die Zeit für ein Duell, das mit einem einzigen Schuß entschieden zu sein hatte, und das war es dann auch, schon war das mir plötzlich zu bieder erscheinende Exm.-Bild durch das nach gewöhnlichen Maßstäben mißratene, jedoch, vielleicht auch gerade deshalb, interessantere Burton-B.-Bild mit seinen leuchtenden Farben und der Hauptfigur hinter einer Sonnenbrille verborgen, was ihr und dem ganzen Arrangement einen Hauch von Mystik verlieh, schon war die Konvention durch ihr Gegenteil ersetzt, das Gedicht angehängt, der separat entworfene Text in die Email hineinkopiert und der Button ‚Senden‘ gedrückt. Peng – die Leidenschaft hatte gewonnen; lautlos blutend erlag die Vernunft ihren tödlichen Verletzungen.
Ob es nicht gefährlich sei, was ich triebe, ob es nicht sicherer sei, einen Kosmos um fiktive Personen herumzubauen, um sich der Versuchung zu berauben, mit diesen Personen in Interaktion zu treten. Ob die Fiktion mit anderen Worten nicht am Ende doch vernünftiger sei als die Realität. An seine Schulter gelehnt, draußen im Biergarten des O. F., sagte ich das, in die Abendsonne blinzelnd, die nur auf unseren Tisch fiel, sonst nirgendshin. Der alte Mann mit dem Hut nickte und nahm einen Schluck von seinem Cider. Heute nur ein half pint, denn er mußte ja noch nach Hause fahren. Er wußte nicht, daß ich über einen anderen alten Mann sprach, sieben Jahre jünger als er, nicht mehr. Vielleicht ahnte er es. Ich hatte auch gesagt, was ich schriebe, sei faktisch ja Fiktion, nichts sonst. Eine Welt in meinem Kopf, ein Universum der Sehnsucht, ein Labyrinth der Phantasie. Alles ist Fiktion, und doch kann ich mir nichts Realeres vorstellen als dieses. It is faction, not fiction.

Und ich wünschte so sehr, ich könnte es mit Dir teilen. Ich wünschte so sehr, Du sprächest meine Sprache und wir könnten zusammen darin wandeln, Tür auf und willkommen in der Traumwelt der Anaïs Spiegel mit ihren weiten Ebenen, in deren Horizont Meer und Himmel einander umschlingen, mit Felsformationen, in deren kratertiefen Abgründen so mancher abgestürzte Ritter auf Rettung harrt, mit Wäldern, lieblichen und düsteren, und immer wieder kleinen humorvollen Überraschungen am Wegesrand.
Willkommen! sage ich und lade Dich ein, ein Stück des Weges mit mir zu gehen. Nur ein kleines Stück. Trau dich. Du wirst es nicht bereuen.
 
 

 
 

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