Thursday 26 January 2017

Mensch
Dienstag, 9. Juni 2015
Train London Paddington – E.
4:20pm

Statt zu schreiben, habe ich mit ihm telephoniert. Mit „dem Alten“, wie H. ihn abfällig nennt. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, einen Umweg über D. zu machen. Auf deutsch: ich hatte mit dem Gedanken gespielt, die Rückkehr in mein Leben noch ein wenig hinauszuzögern. Den Plan, dies diskret zu tun, hat H. allerdings durch einen Anruf, kaum daß ich in Paddington angekommen war, schon vereitelt, und M.s Anruf [erneut Anruf von H…: Wann kommst du?] kam zu spät. Denn die Verhandlung mit dem freundlichen Angestellten am Schalter hatte ergeben, daß ich frühestens um sieben in D. hätte sein können. Also stieg ich in den Zug nach E. Da sitze ich nun. Kalt ist mir. Die Müdigkeit lähmt Hirn und Blut.
Ich schrieb M., nachdem die Verbindung abgebrochen war, heute sei es doch nicht vernünftig, ich müsse ja auch auf H. Rücksicht nehmen. M. schrieb zurück, sinngemäß, H. sei ihm egal, er habe mich vermißt, er wolle mich sehen. Punkt. Die Geister, die ich rief… H. rief dann gleich noch einmal an, wann ich denn nun ankäme, wie der Abend laufen solle, und daß K. gefragt habe, wann denn heute Skypen möglich sei. Ich muß sagen, daß mir übel ist. Wenn ich könnte, würde ich gleich jetzt mit einen großen Satz hinaus aus dem Zug hüpfen, in die weichen Wattewiesen hinein, die draußen an uns vorbeifliegen. Dort würde ich mich hinlegen und schlafen. Schlafen, ganz einfach. Ich bin so müde. Das sollte doch wohl auf Verständnis stoßen. Ich würde schlafen und morgen früh dann, oder wann immer ich aufwachen würde, würde ich mich dann um die anstehenden Probleme kümmern und sie nacheinander lösen, Schritt für Schritt, ganz in Ruhe. Meistens gibt es ja eine Lösung, man braucht eben nur etwas Zeit, um sie auch zu finden. Heute finde ich keine mehr. Heute ist keine Zeit. Heute ist Zeit zum Schlafen.
Himmel, die Sonne kommt heraus, aber die Schatten wandern mit mir mit. Immer sind da diese Schatten in meinem Nacken. Ich wäre so gerne einmal nirgends. Meine Augen sind immer offen und würden so gerne einmal sich schließen und nichts mehr sehen, nichts mehr. Ich bin überhaupt gar nichts anderes als ein Auge, in dem die Welt sich spiegelt in ihren schönen und schaurigen Facetten und Lichtspielen. Deshalb habe ich mich Anais Spiegel genannt. Anais wegen einer gewissen frühen Verwandtschaft im Geiste, Spiegel wegen meiner Passion, die Welt zu verdoppeln. Und in der Verdoppelung wahrer zu machen, das Wahre und Brutale der Wahrheit schärfer herauskommen zu lassen, aber auch das Liebenswerte daran. Es ist gut, am Leben zu sein, solange man darüber reden und schreiben kann. Wenn nicht, dann nicht.
Am Freitagabend, auf dem [schon wieder Anruf von H.] Weg ins 360⁰, ein Ananas-Eis in der Hand, sprach ich den Pianospieler an, der schon, als ich noch in dieser Stadt lebte, an sommerlichen Abenden wie diesem die Maria-Theresien-Straße in einen Jazz-Salon verwandelte. Eddie hieß er, kam aus Irland. Er spielte und sang ohne Noten. Ich fragte ihn, ob er denn alles auswendig spiele. Ja, sagte er, das gehe gar nicht anders, wenn man die Musik fühlen und das Gefühl zu den Leuten transportieren wolle. Ich gab ihm recht, fügte jedoch hinzu, es sei nur jetzt gerade etwas unpraktisch, denn wenn er Noten dabei gehabt hätte, dann hätte ich etwas singen und er dazu spielen können. „Yesterday“ zum Beispiel. Er gab mir zu verstehen, das sei im Prinzip ja wohl mein Problem, nicht seines. Ich fragte ihn, wann er wieder spielen würde. Tomorrow between 8 and 11. Ok, sagte ich, I will prepare myself and see you tomorrow. [message from M….] Er reichte mir die Hand: “Tomorrow ‚Yesterday‘. I expect you to keep your promise.“ Und dann spielte er und sang „Mensch“ von Herbert Grönemeyer.

Bevor ich am Samstagmittag zur Fortsetzung der Einkaufstour aufbrach, bat ich die Hotelangestellte, mir etwas auszudrucken. „Müssen Sie schon wieder einen Vortrag halten?“, fragte sie. „Nein“, sagte ich, „diesmal nur singen.“ Für die Dauer der Pizzaschnitte beim gegenübergelegenen Mamma Mia (schlecht wie eh und je, aber günstig und schnell) memorierte ich die Texte von insgesamt vier Songs, und im Anschluß an das Treffen mit D. S. folgte ein dreistündiges Training im Hotelzimmer. Unterdessen brach ein Gewitter los, und obwohl mir Böses schwante, ließ ich mich nicht irritieren und setzte – unter gelegentlichem nervösen Klopfen der Zimmernachbarn – meine Übungen fort.
Ich überredete C., trotz des nicht enden wollenden Unwetters mich in der Stadt zu treffen, ich hatte ihm von den Gesangsplänen erzählt, und er meinte gleich, na, das würde wohl nichts. So war es dann auch. Ich fand die Maria-Theresien-Straße verlassen, kein Klavier vor der Manna-Bar. Ich fragte nach Eddie, dem Klavierspieler. Die Frau hinterm Tresen deutete stumm mit dem Finger auf einen breiten Rücken neben mir. Dort saß er bei einem Bier, zusammen mit zwei irischen Freunden. „Don’t blame me!“, sagte er. „I don’t“, sagte ich. Und dann brachte ich die Leute ein wenig zum Erzählen, warum sie denn hier seien, usw. Der eine hatte ursprünglich nur einen Ferienjob gehabt, für drei Monate, aus denen dann inzwischen 18 Jahre geworden sind. Der andere war auch schon 8 Jahre hier, und Eddie 20. Meine Frage „Do you plan to die in I.?“ löste allgemeine Heiterkeit aus, und in dieser Heiterkeit habe ich die Leute zurückgelassen und bin wieder in den Regen hinausgegangen. Nach langem Hin- und Hertelephonieren mit C. sind wir in einem Sushi-Laden gestrandet, dort haben wir Unmengen Sushi gegessen (auf Rechnung meines Chefs), bis uns schlecht war, und ich war wieder versöhnt mit dem Tag, der in der Orangerie ausklang. Oder sagen wir: fast versöhnt.

 
Und es ist, es ist okay
Alles auf dem Weg
Und es ist Sonnenzeit
Unbeschwert und frei
Und der Mensch heißt Mensch
Weil er vergisst
Weil er verdrängt
Und weil er schwärmt und stählt
Weil er wärmt, wenn er erzählt
Und weil er lacht
Weil er lebt
 
Du fehlst
 
 




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